WALSER’S WORLD

Eike Geisel gewidmet

Deutscher Herbst 1998:

150 Jahre nach dem gescheiterten Versuch deutscher Demokraten, durch eine revolutionäre Erhebung den deutschen Landen eine Verfassung zu verpassen gelingt den deutschen Sozialdemokraten eine kleine parlamentarische Revolution: zum ersten Mal in der Geschichte der BRDemokratie wird ein Kanzler vom Wahlvolk abgewählt. Und 150 Jahre nachdem auf der ersten deutschen Nationalversammlung radikale Demokraten und reaktionäre Antidemokraten, Politiker, Honoratioren, Dichter und Unternehmer in der Paulskirche um die politische Zukunft des ersten deutschen Nationalstaates stritten ergreift an eben diesem historischen Ort ein deutscher Dichter vor einer Versammlung von Honoratioren, Politikern, Kulturfunktionären und Unternehmern das Wort, um über die Zukunft des neuen deutschen Nationalstaates zu sprechen. Ein „Fall von Oberschichtenkommunikation“ (Micha Brumlik), in welcher der „Nationalreferent“ (Walser über Walser) für die „Berliner Republik“ in der neuen Mitte Europas zwei Rezepte parat hält, die so neu nicht sind: Amnestie und Amnesie. Amnestie fordert der ehemals als „links“ geltende Schriftsteller für den „idealistisch-sozialistischen“ DDR-Spion Rainer Rupp und Amnesie empfiehlt er den Deutschen im Angesicht ihrer „Schande“. In diesem Wort liegt die ganze Kraft des Walser’schen Tabubruchs in seiner sonst banal zeitgeistkonformen Rede. Denn mit der nationalen „Schande“ meint Walser die Shoah, die nazideutsche Vernichtung von Millionen Menschenleben. Er redet nicht mehr -wie bisher üblich- über Schuld oder Scham und die Verantwortung für die deutschen Verbrechen der NS-Vergangenheit, sondern er wählt bewußt ein Wort aus Reportoire der nationalistischen Rhetorik (die „Schande von Versailles“).  „Verdrängen statt verurteilen“ lautet konsequenterweise sein Patentrezept: „an der Disqualifizierung des Verdrängens kann ich mich nicht beteiligen.“ Der Ort, in den das Gedenken aus der Öffentlichkeit verdrängt werden soll, ist die Privatheit des innerlichen Gewissens. Über gemeinschaftliches Gedenken und das kollektive Gedächtnis hat er nichts zu sagen. 

„Im Wegschauen geübt“

Walser bekennt in aller Öffentlichkeit: „im Wegschauen und Wegdenken bin ich geübt.“ Der Dichter pflegt damit eine Tradition, die insbesondere zwischen 1933 und 1945 fest im deutschen Brauchtum verankert war und uns Jüngeren geradezu als Inbegriff fataler staatsbürgerlicher Feigheit gilt. Und wie Martin Luther II. gesteht Martin Walser bei seiner Paulskirchen-Sonntagsrede: „ich habe schon mindestens zwanzigmal weggeschaut“-  nämlich bei der „Dauerpräsentation unserer Schande in den Medien“ („kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird“). Wer Walser davon abhält, von Guido Knoop auf Guildo Horn umzuschalten, fragte sich Henryk M. Broder in den Frankfurter Jüdischen Nachrichten (Eine Invasion von pc-Truppen am Bodensee? Und Walsers Wohnzimmer ein von „Meinungssoldaten“ besetztes Territorium, die ihm die Fernbedienung geklaut haben.) Walsers Wut gilt der öffentlichen Dokumentation und Aufklärung der NS-Geschichte in den Medien: dem „grausamen Erinnerungsdienst“, wie er das nennt. Diejenigen, die in diesem Bereich arbeiten sind für ihn „Gewissenswarte“ und „Meinungssoldaten“, die ihn „mit vorgehaltenen Moralpistolen in den Meinungsdienst zwingen wollen“ oder mit der „Moralkeule Auschwitz“. Und wie er so wegschaut, beginnt er „die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören und <ist> fast froh, entdecken zu können, daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken.“ Roß und Reiter nennt er dabei nicht, wie von verschiedenen Seiten mehrfach gefordert wurde. Er blieb eine Antwort schuldig und weigert sich auch weiterhin, konkret zuzugeben, was und v.a. wen er damit meint. Die Sammelklagen von noch lebenden Überlebenden der Shoah? Die Entschädigungsforderungen der ehemaligen Zwangs- und Sklavenarbeiter der deutschen Wirtschaft? (Oder doch die deutschen Politiker, die Saddam Hussein oder Milosevic mit Hitler vergleichen? Die Rede vom Atomkrieg als „nuklearen Holocaust“? Oder die ehemaligen DDR-Bürgerrechtler, die über ein „Auschwitz in den Seelen“ der Ostdeutschen klagen? Oder die radikale klerikale Rechte, die Abtreibung als „Holocaust am ungeborenen Leben“ geißelt? Oder Vertreter der „loony left“ wie einige Veganer, die bei Massentierhaltung von „Hühner-KZ’s“ sprechen?) Walser bleibt die Klärung schuldig.

Revanche

Stattdessen benutzt er die Gunst der Stunde, um vom Katheder der Paulskirche herab mit einigen „Gewissenswarten“ abzurechnen, die er seit längerem im Visier hat. Ohne sie namentlich zu nennen greift er einige Intellektuelle an (man glaubt Grass und Habermas): Grass, weil er die deutsche Frage mit der deutschen Schuldfrage in Verbindung gebracht hatte. Habermas, weil er in der ZEIT die Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen und die ausländerfeindliche Stimmung in der Bevölkerung mit den Würstchenbuden beschrieben hat, die dort aufgebaut waren. Bubis ist nach der Rede zu Walser gestürtzt und hat ihm gesagt, daß es diese Würstchenbuden wirklich gegeben hat, aber Walser will das alles nicht glauben, bzw. davon nichts wissen, er will -na was wohl?- wegschauen. Und eine „unbeweisbare Ahnung“ stellt sich bei ihm ein: „Die, die mit solchen Sätzen auftreten, wollen uns wehtun, weil sie finden, wir haben das verdient. Wahrscheinlich wollen sie auch sich selber verletzen. Aber uns auch. Alle. Eine Einschränkung: Alle Deutschen. Denn das ist schon klar: In keiner anderen Sprache könnte im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts so von einem Volk, einer Bevölkerung, einer Gesellschaft gesprochen werden. Das kann man nur von Deutschen sagen.“ Kurt Tucholsky hat einmal gesagt: Niemals geraten die Deutschen so außer sich, als wenn sie zu sich gelangen wollen. Und niemals sind die Deutschen so sehr bei sich als in der Rolle der verfolgten Unschuld, hat Daniel Cohn-Bendit in der FAZ Sonntagszeitung hinzugefügt. Walsers gekindelte aggressiv-regressive Weh-wehleidigkeit erklärt sich Marcel Reich-Ranicki damit, daß Walser zugleich „ein Mann und ein Kind“ sei. Jenem gilt Walsers Wut im besonderen. Es geht hier mehr um Narzißmus als um Nazismus: sein eitles Gekränktsein über Kritik an seinem Werk, insbesondere seines neusten Romans, ist der konkrete Anlaß für seine deutsche (An-)Klage.

„Wegdenken nach 1945“

Auch sein autobiographisch gefärbter Roman „Ein springenden Brunnen“ handelt vom „Wegdenken“. Und von einer Jüdin aus seinem Heimatdorf, „die war nach dem Krieg immer noch da“. (Walser im SPIEGEL-Gespräch mit Augstein). In seinem Roman schildert er eine Begegnung eines „Johann“ mit einem „Wolfgang“, dem Sohn der Jüdin, der ihm erzählen möchte, was seiner Familie während der letzten zwölf Jahre passiert ist. „Johann“ beeindruckt das nicht: „Er hatte gespürt, daß Wolfgang, was er ihm erzählt hatte, erzählt hatte, weil Johann das wissen müsse. Vielleicht meinte Wolfgang, daß Johann ein Vorwurf zu machen sei, weil er all das nicht gewußt, nicht gemerkt hatte. Johann wehrte sich gegen diesen vermuteten Vorwurf. Woher hätte er wissen sollen, daß Frau Haensel Jüdin ist? Er wollte von sich nichts verlangen lassen. Was er empfand, wollte er selber empfinden. Niemand sollte ihm eine Empfindung abverlangen, die er nicht selber hatte ... Er wollte nicht gezwungen sein. Zu nichts und von niemandem.“ Vor der Begegnung mit der Mutter hat er Angst, und er hat „Angst vor dieser Angst, sie engt ihn ein. Er mußte wegdenken.“ Walsers eigene Mutter -eine sehr religiöse Frau- tritt dagegen zu einem frühen Zeitpunkt in die NSDAP ein, um den Walserschen Gutshof zu retten. Das gelingt ihr, denn nun versammeln sich die örtlichen Nazis bei ihr. Für Walser ist sie „eine Art Thomas von Aquin des 20. Jahrhunderts“, an Hitler habe sie geglaubt, wegen der Vorsehung, erzählt Walser im SPIEGEL-Gespräch. Einige wenige Rezensenten (5 von 125, schreibt der Verlag) fanden diese Stellen unschön an „Der springende Brunnen“. Und das ist der springende Punkt: dem Autor Walser mißfällt diese Kritik. Schon gar der Verdacht, er wollte die NS-Geschichte verharmlosen oder gar verherrlichen. Mit dem Eintritt seiner Mutter in die Partei, wollte er erzählen, „warum Deutschland in die Partei eingetreten sei“. Und so harmlos geht es weiter: an den Erzählungen eines SA-Mannes über die Judenverfolgung stört ihn dessen Fußschweiß mehr als seine Schilderungen, die SS-Leute tun ihm leid, denn die wurden „gebrandmarkt.“ Anscheinend teilen viele Zeitgeistgenossen diese Art der Erinnerung. Walsers Roman wurde zum Bestseller, die Debatte hat seinen Verkaufszahlen mehr genutzt als geschadet, die Buchhändler haben ihn aus Dankbarkeit zum Jahresautoren gekürt. Und dabei ist -so Walser in seiner Rede- die „literarische Sprache die einzigen, die einem nichts verkaufen will.“

„Schöner - normaler - nationaler“

Schließlich schlägt Walser den Bogen zum Berliner Mahnmal: „die Monumentalisierung der Schande“. Das Projekt, in der neuen Mitte von Berlin ein ehrendes „Gedenkmal“ für den nazideutschen Massenmord an den europäischen Juden bezeichnet er als „die Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Alptraum“ (Alptraum - was ein Wort.) Und wie in einem Alptraum vermischen, verschieben und verdrehen sich in seiner Rede verschiedene Bilder und Begriffe. Und doch folgt seine Rede, wenn man sie nachliest, einer geschickten Dramaturgie. Mal geht es um den DDR-Spion, „der sühnt und sühnt und sühnt bis ins nächste Jahrtausend“ (ein Opfer der deutschen Einheit/ein Märtyrer für Deutschland?). Dann geht es wieder um „Auschwitz“ als Chiffre für die „deutsche Schande“. Zwischen diese Polen pendelt seine Rede hin und her, doch ein roter Faden bleibt zu erkennen: Deutschland, die „deutsche Einheit“ und das Nationale, denn: „etwas Nationales ist schön“ (Walser, 1980). Mit diesen „Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“ (Titel) hebt Walser an: daß er eigentlich nur über Schönes reden will, nichts Kritisches. „Aber als er dann so deutlich gesagt kriegte, daß von ihm erwartet werde, die kritische Sonntagsrede zu halten, wehrte sich in ihm die freiheitsdurstige Seele doch noch einmal.“ (Walser redet oft von sich in der dritten Person.) Walser will nur über Schönes reden und redet nur über Nationales. Seine  „Friedenspreisrede“ galt dann auch weniger dem Weltfrieden und der Völkerverständigung, sondern dem „Frieden“ in der deutschen Gesellschaft, der „inneren Einheit“: das deutsche Volk soll seinen Frieden mit sich und seiner Vergangenheit machen. Schon vor über 20 Jahren schrieb er: „Wenn wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns endlich wieder nationalen Aufgaben zuwenden.“ Welche diese seien, ließ er natürlich ebenso im Zwielicht wie seine anderen Andeutungen. (Deutschland in den Grenzen von 1937? Die Weltmacht?)

„Vor Kühnheit zitternd“

Schon 1977, als Walser noch in dem Verdacht stand, links zu sein, bzw. der DKP nahe zu stehen und als die Mauer noch stand, hat Walser bei einer Rede in Frankfurt „vor Kühnheit gezittert“, als er sagte: „wir dürfen die BRD ebensowenig anerkennen wie die DDR“. Das galt als Tabubruch und seitdem wurde er öfters von der CSU eingeladen als von der DKP und seitdem fühlte er sich als Prophet der Wiedervereinigung. Genau dafür wurde er auch in der Paulskirche geehrt. Doch geht es Walser nicht darum, rational national zu sein, sondern er kultivierte über die Jahre hinweg ein „Stuttgart-Leipzig-Gefühl“. Und sein „Deutschlandgefühl“ geht auch darüber hinaus: „Und wenn mir Königsberg einfällt, gerate ich in einen Geschichtswirbel, der mich dreht und hinunterschlingt.“ Das kann man in dem Sammelband „Deutsche Sorgen“ nachlesen und auch, daß er „den Verlust <der deutschen Ostgebiete> bedauern dürfen wollte. Sagen dürfen: Schön wär’s wir hätten’s noch.“ („Dorle und Wolf“, 1987. Abgedruckt in „Deutsche Sorgen, 1997) Das ist nicht mehr normal und national, sondern nationalistisch und revisionistisch, denn um dieses „Bodensee-Königsberg-Gefühl“ zu befriedigen, müßten noch einige Grenzen revidiert werden, schrieb vor Jahren schon Jurek Becker. Dementsprechend fällt auch Walsers „Geschichtsgefühl“ aus: am Ersten Weltkrieg waren die anderen europäischen Nationen genauso beteiligt wie die deutsche und Hitler eine „Ausgeburt von Versailles“: „Wenn aber Hitlerdeutschland nicht durch Germanenkult, sondern durch Versaillesdiktat entstand, dann ist der zweite Krieg eine Folge des ersten.“ („Tartuffe weiß, wer er ist“, 1985. Abgedruckt in „Deutsche Sorgen“, 1997) Deutsche Weltkriegsschuld I weggeleugnet und II durch die „Schande von Versailles“ wegrationalisiert, da steht einem ungebrochenem Nationalgefühl nur noch diese andere „Schande“ entgegen. Und so schlägt Walsers Nationalgefühl in den „Normalisierungs-Nationalismus“ um, vor dem Peter Glotz noch vor vier Jahren gewarnt hat. In der Paulskirche „zitterte er vor Kühnheit“ als er diesmal sagte: „Auschwitz eignet sich nicht dazu, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets.“ Und so gipfelt seine Rede in die rhetorische Frage: „In welchen Verdacht gerät man, wenn man heute sagt, wir seien eine normale Gesellschaft, ein normales Volk?“ In den Verdacht, von Auschwitz nichts mehr wissen zu wollen? Einen Schlußstrich zu ziehen? Das bestreitet der Dichter wiederum und beruft sich auf die Autonomie des Gewissens und auf Heidegger. „Für das Publikum, das ihm stehend zujubelte, ohne die Quellen seiner Einsicht zu kennen, reichte es, daß ein Großschriftsteller mit großer Geste sein Büßerhemdchen auszog und das verschwitzte Trikot in den Saal warf“, schreibt Henryk M. Broder im Tagesspiegel.  

„Geistige Brandstiftung“

Unter all denen, die dort versammelt waren, hat es nur ein einziger, ein einziges Mitglied dieses Establishments gewagt, Walser demonstrativ den Dank für seine Rede zu versagen: Ignatz Bubis, der sich zunächst nicht erhob und dann - am 9. November 1998- präzise ausdrückte, worum es ging: um geistige Brandstiftung. Er, der bei Walsers Rede in der ersten Reihe saß, muß sich -Auge in Auge mit dem Redner- auch persönlich provoziert gefühlt haben und sackte während der Rede immer mehr in sich zusammen. Es war -so Bubis im FR-Interview- vor allem Walsers vehementer Vortrag, „anklagend und angreifend“. Die festlich versammelte upper class empfand die Provokation als befreiend, 1200 „ziemlich qualifizierte Zeitgenossen“ (Walser über das Paulskirchenpublikum) applaudierten mit standing ovations.

Am 27. Januar 1999 hat Micha Brumlik am Mahnmal an der Rückseite der Paulskirche sehr präzise formuliert, was dort drinnen am 11. Oktober 1998 passiert war: „Ein nationalistischer Schriftsteller hat  unter Berufung auf sein eitles Gewissen unter dem stehenden Beifall der versammelten sogenannten Eliten dieses Landes gewagt, die mühsame, unter Schwierigkeiten und Widersprüchen, unter Schmerzen entstandene Kultur der Erinnerung dieses Landes zu schmähen und zu beschädigen.“ Und er hat das deutsch-jüdische Verhältnis, für dessen Normalisierung Ignatz Bubis wie kein anderer stand, schwer beschädigt. Brumlik weiter: „Der Mann, der lange Jahre everybodys darling unter den sogenannten Eliten war, stand auf einmal alleine da. Mit wenigen Ausnahmen, unter ihnen der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, stellte sich niemand von all den Geistesgrößen, politischen Kapazitäten und kulturellen Trendsettern an seine Seite, jedenfalls nicht öffentlich.Vielmehr wurden diskrete Briefe geschrieben („zwar nicht 1000, aber fünf Aktenordner voll“: Bubis im Gespräch mit Walser), deren Text aber oft genug durchblicken liess, daß sie nicht zur Veröffentlichung gedacht seien. Um nur ein Beispiel zu nennen: Vor einigen Jahren, als in der Jüdischen Gemeinde Frankfurters Bubis Autobiographie vorgestellt wurde, sagte der ehemalige Außenminister Genscher, ein Parteifreunds Bubis, daß „wir um die Demokratie in diesem Lande nicht besorgt sein müssen, solange es Menschen wie Ignatz Bubis gibt.“ Genscher hatte und hat recht - aber wo war seine Stimme in den letzten Monaten? Vielmehr schienen die meisten Vertreter der politischen Klasse Walser zuzustimmen und sogar Bundeskanzler Schröder, ein Mann der - immerhin - permanent dazu lernt oder eben auch nicht, sagte: „Ein Schriftsteller kann manches sagen, wozu ein Politiker schweigen muß.“

„Begeistertung: Brandstiftung als Befreiung“

In derselben Zeit beglückwunschten „über 1000 begeisterte Briefe“ von lauter normalen, netten, nicht-jüdischen Deutschen Walser zu seinen „befreienden Worten“, die man bisher nur „hinter vorgehaltener Hand“ geäußert hatte. Walser befand sich durch diesen Support der Bevölkerung in einem solchen High-Gefühl, daß er jede Möglichkeit bestritt, daß unter den durch ihn befreiten Deutschen auch ganz üble Zeitgenossen sein könnte. Die neonazistische „Deutsche Nationalzeitung“  pries die „Befreiungsrede des weltberühmten Literaten“ und druckte sie genüßlich passagenweise ab. Franz Schönhuber, mittlerweilen Spitzenkandidat der DVU bei der Europawahl und regelmäßiger Kolumnist der DNZ, schrieb dazu: „Martin Walser hat über die Vergangenheitsbewältigung kaum anderes zum Ausdruck gebracht, als ich in meinen Büchern geschrieben und meinen Reden gesagt habe.“ (DNZ 51/98, S.8) Bubis hatte das sofort vorhergesehen. Kein Mensch beruft sich auf einen Schönhuber, einen Frey oder Deckert. Nun können aber alle Schlußstrich-Rufer sich auf das „Wegschauen und Wegdenken“ a la Walser berufen. Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz, so Walser. Aber seit dem sog. Historikerstreit leugnet selbst im rechtsextremen Lager kaum noch jemand den Holocaust. Es gibt kaum noch Holocaust-Leugner, sondern vor allem Holocaust-Relativierer, entgegnete Bubis. Diese haben nun, wenn Walser sich nicht unmißverständlich davor schütze, einen neuen „geistigen Vater“. Deswegen hat Bubis interveniert. Walser aber-„das Orakel vom Bodensee“ (Wolfram Schütte in der „Frankfurter Rundschau“)- schwieg.

„Opfersehnsucht und Judenneid“:

Dafür schaltete sich der hanseatische Sozialdemokrat Klaus v. Dohnanyi ein: „Walsers Rede war die Klage eines Deutschen -allerdings eines nichtjüdischen Deutschen- über den allzu häufigen Versuch anderer, aus unserem Gewissen eigene Vorteile zu schlagen. Es zu mißbrauchen, ja zu manipulieren.“

Die FAZ, deren Herausgeber Frank Schirrmacher dem Schriftsteller die Laudatio in der Paulskirche gehalten hatte, räumte ihm ungewöhnlich viel Platz ein, sich über das Verhältnis von Deutschen und Juden, nationaler Würde, deutscher Befindlichkeit und „Verletzbarkeit“ zu verbreiten. Es gipfelte darin, daß er dem KZ-Überlebenden Ignatz Bubis in einem offenen Brief die Gegenfrage stellte, ob sich  die jüdischen Bürger „so sehr viel tapferer als die meisten anderen Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 „nur“ die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären“. Diese Frage hatte 1995 der Tagesspiegel zugespitzt auch schon aufgeworfen: „Den industriellen Massenmord haben Juden weder erfunden noch betrieben. Aber wären sie dazu in der Lage? Eine widerliche Frage;“ gestand man ein, nur um bruchlos zu folgendem Ergebnis zu kommen: „die hypothetische Antwort muß lauten: Ja.“ Bubis, der fast seine ganze Familie in den nazideutschen Vernichtungslagern verloren hat, wies die Frage als „bösartig“ zurück. Dohnanyi, weit davon entfernt, seine Frage als „widerlich“ zu empfinden, sie zurückzunehmen oder sich zu dafür zu entschuldigen, wiederholte sie auch vor Bubis erneut im Fernsehen. „Der Subtext von Dohnanyis Anfrage an ‘die jüdischen Bürger in Deutschland’“ -schrieb daraufhin Henryk M. Broder im Tagesspiegel- „besteht in der unausgesprochenen Überlegung, daß es nur eine Laune des Zufalls war, daß die Deutschen mit den Juden Schlitten gefahren sind, genausogut hätten die Juden die Deutschen auf die lange Reise schicken können. Das, meint Dohnanyi, sollten die Juden bedenken, bevor sie sich über die Deutschen erheben.“ Broders Freund Eike Geisel hat für dieses Phänomen die korrekten Worte gefunden: „Opfersehnsucht und Judenneid“ (Eike Geisel: „Triumph des guten Willens. Gute Nazis und selbsternannte Opfer. Die Nationalisierung der Erinnerung,“ 1998). Von Adorno stammt die Bemerkung, wenn der Bürger die Massenverbrechen gesteht, dann will er, daß auch die Opfer schuldig sind. Die Opfersehnsucht will nicht nur, daß Opfer auch Täter sind, sondern daß aus den Tätern auch Opfer werden. Zu groß ist der Neid gegen die deutschen Juden, die die „deutsche Schande“ nicht mittragen müssen, die -so Walser-: „vor einem bewahrt geblieben sind, nämlich davor mitzumachen.“ Die Massenmörder werden zu tragisch Bösen und Walser ein „Opfer der Opfer“. Walser in einem Interview mit Willi Winkler in der „Süddeutsche Zeitung“ vom 20. September 1998 über einen der angesehnsten deutschen Literaturkritiker: „Bei Reich-Ranicki sind die Autoren die Opfer und er der Täter. Herr Reich-Ranicki, bei unserem Verhältnis bin ich der Jude.“

 „Schwellende Muskeln“:

Anfang der Achtziger hatte der SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein in dieselbe Kerbe geschlagen, als er konstatierte: „Kein moralischer Unterschied zwischen der schweigenden Mehrheit der Deutschen und der schweigenden Mehrheit der Juden.“ Damals nannte Broder Augstein einen „Salon-Antisemiten“: „Und keiner haut Rudi eine in die Fresse.“ (Broder, „Der ewige Antisemit“).

Im SPIEGEL Nr.49 vom 30.11. (Titel: „Ist die Schuld verjährt?“) hat Augstein die anonymen Mächte, die Walser in seiner unbenannt läßt, konkretisiert:  „die New Yorker Presse und die Haifische im Anwaltsgewand“.

Über deren angebliche „Stimmungsmache“ zitiert er das Bonner Urgestein Konrad Adenauer: „Das Weltjudentum ist eine jroße Macht“. Augsteins Beitrag war mit Abstand der übelste der ganzen Debatte.

Was den Zorn der beiden alten deutschen Männerfreunde Augstein und Walser entfesselt ist das Berliner Mahnmal: „ein fußballfeldgroßer Albtraum“ für Walser, für Augstein eine „Monstrosität in der Mitte der wiedergewonnen Hauptstadt Berlins“. Und -„so sehr die Muskeln auch schwellen- man wird es nicht wagen zu verhindern, daß den Deutschen ein steinernes Brandmal aufgezwungen wird ... Man ahnt, daß dieses Schandmal gegen die Hauptstadt und das in Berlin sich neu formierende Deutschland gerichtet ist“, aber: „man kann uns nicht von außen diktieren, wie wir unsere neuen Hauptstadt in Erinnerung an die Vergangenheit gestalten“, schreibt er außer sich vor Zorn. Erzürnt über das „Diktat von außen“ verdrängt er völlig, daß der Vorschlag für die Einrichtung einer zentralen Trauerstätte weder von deutschen noch von nichtdeutschen Juden stammt, sondern von deutschen Nichtjuden: deutschen Deutschen wie Walser, Dohnanyi und Augstein. Noch vor ein paar Jahren sahen angesehene Mitglieder der High Society wie der Deutsche Edzard Reuter und der Deutsche Walter Jens in dem von der Deutschen Lea Rosh initiierten Mahnmal-Projekt eine „Gemeinschaftsaufgabe von uns Deutschen.“. Doch die bröckelnde Unterstützung für das Projekt und die auf einmal aufkommende Wut auf anonyme Mächte (in- und ausländische Juden) ist ein äußerst beunruhigendes Indiz für eine veränderte Stimmung zu Beginn der „Berliner Republik“: das „sich neu formierende Deutschland“.

„Die Auschwitz-Spinne“

Bei dieser vehement wütenden Abwehr des Mahnmal-Projekts wird deutlich: es handelt sich um psychologische Projektionen bis hin zur puren Paranoia. Ein FAZ-Leserbriefschreiber spinnt seine Bedrohungsphantasien ins Pathologische weiter: „Auschwitz“ wird ihm zu einer Mega-Spinne, die „um Deutschland kreist und mit seinen Fäden einspinnt.“ Anonyme ausländische Mächte von außen, die Deutschland einkreisen? Ich denke, man sollte die Warnung von Adorno und Horkheimer sehr ernst nehmen: „Die Abwehr der Erinnerung an das Unsägliche, was geschah, bedient sich eben der Motive, welche es bereiten halfen.“ Man kann auch folgende Lehre ziehen: der verzweifelte Versuch der Verdrängung muß scheitern und schlägt dann um in die Verurteilung der vermeintlich Verurteilenden, den „vermuteten Vorwurf“ (s.o.) - auch wenn Bubis tausendmal sagt, es gäbe keine Kollektivschuld. Und dadurch wird es zur self-destroying prophecy. Was Bubis als „latenten Antisemitismus“ bezeichnet hat, nennt die Forschung auch den Sekundären Antisemitismus: Antisemitismus nach Auschwitz wegen Auschwitz. Der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex hat ihn in einem Satz auf den Punkt gebracht: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“ Und die Deutschen werden in Juden nie wieder Deutsche sehen (auch wenn Bubis sich tausendmal als „deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens“ bezeichnet), sondern Israelis, Ausländer, Undeutsche. Und das deutsche Volk bleibt völkisch und die Deutschen arisch. Walsers Words von der Shoah als „Schande“, „Instrumentalisierung“, „Monumentalisierung“ und „Ritualisierung“ etc. treffen den Nerv dieses Wandels. Das Klima wird kälter. Nach dem Untergang der DDR ist auch die „Bonner Republik“ verschwunden. Das hat die von Bubis Einspruch ausgelöste Debatte zum Vorschein gebracht und dafür ist ihm zu danken.

„Geistiger Vater“

Auf v. Dohnanyis Intervention hin entbrannte eine regelrechte „Novemberdebatte“ auf den Seiten der FAZ. Wochenmagazine wie der SPIEGEL, der schon längst seine Meinungsführerschaft verloren hat, hatten das Nachsehen. Wie beim „Historikerstreit“ vor mehr als zehn Jahren konnte sich die FAZ als Medium des Diskurses behaupten. Ihren Höhepunkt fand der Streit in der Intervention des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizäcker, der alarmiert war, daß der Streit „außer Kontrolle“ geraten könne. Schließlich war es Frank Schirrmacher, dem es gelang, den eskalierenden Streit wieder in die Bahnen des direkten Dialogs zu lenken und die beiden Kontrahenten Walser und Bubis in den Redaktionsräumen der FAZ zusammenzubringen: „Bubis und Walser haben miteinander gesprochen“ prangt als Headline der FAZ vom 14. Dez. 1998. Die Botschaft, die die Öffentlichkeit durch diese Nachricht empfing war: der wochenlange Streit sei nun beigelegt. Im Feuilleton der FAZ wurde ein dreiseitiges Gesprächsprotokoll abgedruckt und die beiden Kontrahenten wurden -obwohl sie „kein Medienspektakel“ wünschten- im Anschluß von einem Fernsehteam befragt. Es war natürlich ein Medienspektakel sondersgleichen: der FAZ war ein großes Coup gelungen, die Konkurrenz hatte das Nachsehen, und fast die ganze Nation saß vorm Fernsehschirm, um das Streitgespräch mitzuverfolgen. Umso verwunderlicher ist es, wie es der FAZ und anderen gelingen konnte, diese Aussprache als eine „Aussprache“ zu verkaufen. Geklärt wurde in diesem Gespräch gar nichts: Walser hat erneut versäumt, Roß und Reiter zu nennen und inszenierte sich als Opfer. Er nimmt nicht mal des Wort „Moralkeule“ zurück.

Bubis sah sich leider angesichts des massiven öffentlichen Drucks zum Einlenken gezwungen. Er unterstelte Walser keine bösen Absichten, weil er ihm nicht das Gegenteil beweisen konnte und relativierte das Wort vom „geistigen Brandstifter“. Bubis Versuch einer Klärung wurde vom deutschen Dichter brüsk zurückgewiesen. Er unterbrach Bubis Erklärung abwertend: „Ich brauche das nicht.Ich bin kein Offizier in einem Casino.“  Das ist natürlich eine schlimmere Demütigung, als alles, was er in der Rede und davor im Gespräch schon gesagt hatte. Doch vor lauter auftrumpfender Verachtung entging ihm, daß Bubis seine unmittelbare Reaktion auf die Rede präzisierte: da die angeblich von vielen als „befreiend“ empfundene Wirkung seiner Rede eine verheerende Wirkung hat und der extremen Rechten Aufwind gibt, nannte er ihn einen „geistigen Vater“. Walser ist nun, nachdem er sich davon nicht distanzieren wollte, der geistige Vater eines neuen, poetisch-philosophisch verbrämten Geschichtsrevisionismus. Er hat anderen ein Tor geöffnet. Daraufhin setzte Walser noch einen drauf: „Dann wurde es höchste Zeit, daß dieses Tor geöffnet wurde.“ Wir werden sehen. Mit diesem Satz ist er nun endgültig in der Verantwortung. Er wird sich an seinen Worten messen lassen müssen. (Als Heinz Galinskis Tochter den Anschlag auf das Grab ihres Vaters mit Walsers Rede in Verbindung brachte, wollte dieser „nur noch auswandern.“)

Walsers Schande:

Und dabei war der Beginn des Gesprächs ein außerordentliches Ereignis. Bubis wollte mit Walser von seiner persönlichen Überlebensgeschichte sprechen. Das ist ungewöhnlich; seine eigene Tochter Naomi und ihre Freundin Sharon Mehler haben ein ganzes Buch über das Schweigen ihrer Überlebenden Eltern geschrieben: „Shtika“ - das Schweigen der Überlebenden über die Shoah. Ignatz Bubis hat dieses Tabu in dem FAZ-Gespräch mit Martin Walser gebrochen, als er ihm erzählen und erklären wollte, warum er -der Überlebende, der fast die ganze Familie in den nazideutschen Vernichtungslagern verloren hat- wegschauen muß bei den grauenhaften Bildern aus den befreiten KZ’s im Fernsehen. Bubis wollte eine Brücke der Verständigung bauen, Walser blockte prompt ab. Barsch verwies er ihn darauf, daß er „in diesem Feld (der Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit; Anm.d.Red.) beschäftigt <war>, da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt...“ (nämlich eine eigne Existenz aufzubauen und eine Familie zu gründen- im Land der Täter und der Mörder.) Bubis wiederholte nochmals fast schon beschwörend: „Ich hätte nicht leben können. Ich hätte nicht weiterleben können, wenn ich mich damit früher beschäftigt hätte.“ Walser: „Und ich mußte, um weiterleben zu können, mich damit beschäftigen.“ Basta. Wer die Schamlosigkeit dieser Replik nicht zu lesen versteht, der hat gar nichts verstanden. Daß Bubis an dieser Stelle nicht einfach den Raum verlassen hat ist ihm hoch anzurechnen, denn im folgenden Gespräch reitet sich Walser immer weiter rein. Martin Walser aber hat stellvertretend für seine ganze Generation vielleicht die letzte Chance vertan, ein versöhnliches Verständigungsgespräch mit einem Vertreter der Opfergeneration zu führen. Darin liegt Walsers ganz persönliche Schande, die er mit seinem eignen Gewissen auszumachen hat. Doch mit seinem Gewissen -um dessen Befreiung er in seiner Rede angeblich kämpft- wird Walser keine Schwierigkeiten bekommen. Schon 1965 fragte er sich in seinem Aufsatz „Unser Auschwitz“: „Oder geht mich Auschwitz überhaupt nichts an? ... Ich verspüre meinen Anteil an Auschwitz nicht, das ist ganz sicher. Also dort, wo das Schamgefühl sich regen, wo Gewissen sich melden müßte, bin ich nicht betroffen.“ Walser hat ein reines Gewissen, denn er hat keins. Er kennt keine Scham.

„Generation HJ“

In diesem Aufsatz „Unser Auschwitz“, geschrieben im Jahre 1965 unter den Eindrücken der Frankfurter Auschwitzprozessen, steht eigentlich schon all das drin, was in der Paulskirche in Walser zum Ausbruch kam. So schreibt er: „wir können uns nicht hineindenken in die Lage der „Häftlinge“.“ Bleibt nur: wegdenken. Aber dann ist es doch wieder „Unser Auschwitz“, und nicht das der Überlebenden. Eine Frau hat ihm den Aufsatz verübelt: Ruth Klüger, seine Studienfreundin, selbst Auschwitzüberlebende. In ihrem hervorragenden Erinnerungsbuch „weiter leben“ beschreibt sie das wie folgt: „Später, als auch Christoph (=Martin), wie alle deutschen Intellektuellen unserer Jahrgänge, sein Wort zu Auschwitz gesagt hatte, nahm es ihm übel, daß er mich nicht vorher ausgefragt hatte.“ Martin hatte es vergessen, daß sie in Auschwitz befreit worden war. Aber

-so stellt sich später heraus- er glaubt sowieso, daß Überlebende sich nicht objektiv zu diesem Thema äußern können. So dozierte er ihr eines Tages, der Antisemitismus sei „ein Fremdenhaß gew esen, wie er allen Menschen natürlich sei. Man will das Andersartige nicht um sich haben.“ Klüger fragt zurück: „Bin ich denn wirklich so andersartig als ihr alle?“ Martin läßt durchblicken, sie, die KZ-Überlebende, „könne kein gemäßigtes Urteil fällen über die Katastrophen, die uns heute bedrohen“, weil sie „das Prinzip Hoffnung aus biographischen Gründen“ nicht verstehe. Ruth Klüger antwortet, daß möglicherweise auch die Urteilsfähigkeit ehemaliger Hitlerjungen durch ihre Erziehung beeinträchtigt sei. „Die Bemerkung hält er für unangebracht.“ Aber diese Reaktionsweise ist, glaube ich, symptomatisch für die „Generation HJ“ (Maxim Biller): Walsers rabiate Unsensibilität zeigt, daß auch derjenige, der die Nazizeit nicht als Nazi-PG erlebt hat, sondern als minderjähriger freiwilliger Wehrmachtssoldat, verstrickt ist oder sich zumindest so fühlt: „in den Dreck hineinverwirkt“ (Walser zu Augstein im SPIEGEL-Gespräch). Er schafft es nicht, den „Kreis der Beschuldigten“ zu verlassen (Walser in der Paulskirche). Beschuldigt oder schuldig? „Auf dem Kopf des Diebes brennt der Hut“, sagt ein israelisches Sprichwort über Leute, die sich, obwohl nicht angesprochen, gemeint, weil ertappt fühlen. Wer sich so fühlt, kann auch nicht zuhören. Der kann nur weghören, wegschauen und wegdenken. Sowenig es Walser möglich ist, den „Kreis der Beschuldigten“ zu verlassen, so wenig ist es ihm möglich, sich in die Gefühle der Überlebenden hineinzuversetzen. Walser stellt sich auf die andere Seite. In dem SPIEGEL-Gespräch mit Augstein erklärt er auch die Motive, warum er damals diesen Aufsatz geschrieben hat. Er wollte sich gegen die Verteuflung der KZ-Schergen aussprechen: „das sind doch auch unsere Leute.“ Und Auschwitz unser Auschwitz.  

„Unsere Kinder“

Und Rostock-Lichtenhagen unser Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda unser Hoyerswerda und Mölln unser Mölln und Solingen unser Solingen und Neonazis unsere Kinder. Ich zitiere nochmals Micha Brumliks Paulskirchenrede: 1991/92, als der Bundestag mit den Stimmen der beiden großen Volksparteien das Grundgesetz änderte und eine Lehre aus dem Nationalsozialismus, den Asylartikel 16 entfernte, brannten in Deutschland die Heime von Flüchtlingen und fanden zum ersten Mal seit den Jahren 1947/48 in Europa wieder Pogrome statt, wo? In Deutschland! Ignatz Bubis tat das, was jedem demokratischen Politiker, jedem Kirchenführer und jedem Bischof angestanden hätte und ging zum Ort des Geschehens. Es war Ignatz Bubis, der nach Rostock ging, kein Vertreter der katholischen Bischofskonferenz, kein Vorsitzender der EKD. Er tat das, was einer demokratischen Selbstverständlichkeit entspricht. Der nationalistische Friedenspreisträger jedoch hatte ihn schon damals genau im Blick und präsentierte Bubis Jahre später, im FAZ-Gespräch, die Rechnung: „Denn ich sah Ihr empörtes, ergriffenes Gesicht im Fernsehen, begleitet vom Schein der brennenden Häuser, das war sehr heroisch... Ja, aber verstehen Sie, wenn Sie auftauchen, dann ist das sofort zurückgebunden an 1933.“ Man muß sich diese Äußerung auf der Zunge zergehen lassen. Es ist Martin Walser und nicht Bubis, der erst den Zusammenhang zwischen Rostock und dem Nazirassismus herstellt, um diese Verbindung, als erschrecke er vor seinen eigenen Einsicht, sofort zurückzunehmen und um dann Juden aufzufordern, zu Bürgerrechtsfragen keine Stellung mehr zu nehmen. Daß das nicht nur eine Schmähung der Überlebenden des Massenmords, sondern auch eine Ausgrenzung der jüdischen Minderheit aus der politischen Öffentlichkeit darstellt, bedarf keines weiteren Kommentars... (Abgesehen davon hat sich Bubis damals weltweit für das Ansehen Deutschlands eingesetzt und auf einer Pressekonferenz erklärt, daß trotz der Pogrome Deutschland insgesamt immer noch ein normales Land sei.)  Ich habe Bubis damals auch im Fernsehen gesehen: nicht „empört und ergriffen“, sondern fassungslos und in Tränen. Man muß schon sehr viel Ressentiment in sich gestaut haben, um wie Walser zu reagieren. Doch wen wundert’s: für ihn sind Neonazis „Kostümfaschisten“ und „Skinheadbuben“: „unsere Kinder, die die Vernachlässigung des Nationalen durch uns alle beklagen“. Gegen eben jene „Vernachlässigung des Nationalen“ sieht Walser ein „Samsidat-Deutschtum“ am Entstehen -eine Art Untergrund-Deutschland-, das eine „gruppenbedürftige Kampfmentalität“ entwickelt („Deutsche Sorgen“ II, 1993 in: „Deutsche Sorgen“). Aus dem „Samsidat“ sind mittlerweilen sog. „national befreite Zonen“ in der ehemaligen Ost-Zone Deutschlands entstanden. Die anti-aufklärerische Walsersche Deutschromantik hat das Ihre dazu beigetragen, um die rassistische Gewalt „willfährig in genau die Richtung hinzudeuteln, in die die volksbewegte Skinhead-Avantgarde ihre Feuerspur gelegt hatte“ (Maxim Biller, TEMPO Feb. 1996). Wenn nun Jürgen Habermas in der ZEIT über den Volksfestcharakter der Pogrome

in „Samsidat“ berichtet, reagiert der Romantiker mit trotzigem Kannitverstan: „ich kann das einfach nicht glauben“ und schaut lieber weg. Aber wenn ein deutsch-jüdischer Demokrat sich engagiert, da schaut er hin. Nur: was sieht er dann da?

„Walser- ein deutscher Antisemit?“

Aber kehren wir aber zurück zu Ruth Klügers Buch. Wir erfahren dort auch von einem Streit mit Martin über Martin Luther. Sie konnte die Widersprüche im Leben Luthers nicht verstehen: einerseits die aufgeklärte Art seiner frühen Schriften, andererseits die antijüdischen Haßtiraden seiner späteren Jahre. „Christoph“ fand diese Frage eher „läppisch“, woraufhin sie ihm vorwarf, daß ein verkappter Antisemit auch in ihm stecke. Das hat er weit von sich gewiesen, sich aber gemerkt. Den Vorwurf hat er seitdem öfters gehört. So auch von Günther Amendt, Autor des Buches „Reunion Sundown. Bob Dylan in Europe“, den Walser 1978 in der Hamburger KONKRET-Redaktion mit aggressivem Unterton fragte, was eigentlich besonderes sei an einem „herumzigeunernden Israeliten“ (KONKRET, März 1999). Als Amendt damals den Verdacht aussprach, Walser sei ein Antisemit, wies er das nicht etwa von sich, sondern hat lachend und selbstgefällig geantwortet, das habe Habermas ihm auch schon gesagt...

Und nicht erst, seit er 1998 wie ein wiedergeborener Luther in der Paulskirche gesprochen hat, schon 1989 kam es zu einem Eklat mit dem Repräsentanten des Zentralverbandes einer Opfergruppe der nazideutschen Vernichtung. Damals hat Walser das Drehbuch für den Tatort-Krimi „Armer Nanosh“ geschrieben, gegen den Romani Rose, der Zentralratsvorsitzende der Sinti und Roma wegen der Verwendung geklagt hatte, da der Film „sowohl in den Dialogen, als auch in den Bildern vom „Zigeunerplatz“ kein rassistisches Klischee ausläßt.“ Unterstützt wurde der Zentralrat damals nur von Micha Brumlik, der dem „auch bei seinen Schriftstellerkollegen für seinen Chauvinismus bekannten Dichter“ einen „Rassimus reinsten Wassers“ bescheinigte. Walsers Reaktion: Solange die ihre absurden Vorwürfe aufrecht erhalten, setz ich mich mit denen nicht an einen Tisch... Walser ist sich treu geblieben. Doch Walser hat überall Freunde, die ihn schützen. So erschien sein Verleger extra auf der Gewerkschaftsveranstaltung, auf der Daniel Strauß von der „Arbeitsstelle nationale Minderheiten: Sinti und Roma“ anhand einer Kritik des Tatort-Krimis über die Mechanismen des rassistischen Antiziganismus sprach. Außerdem sprachen Moritz Neumann (Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden Hessens), Benjamin Ortmeyer (GEW Frankfurt) und Professor Horst-Eberhard Richter, der sich mit den deutschnationalen Mechanismen auseinandersetzte, die Walser und andere nutzen, um gewollt oder ungewollt negative Stimmungen gegen Überlebende zu schüren. Sowohl der Hauptvorstand der IG Medien wie der GEW wandten sich gegen die Veranstaltung und stellten sich vor Walser, der wieder mit Austritt und Auswanderung gedroht hatte.

„...und er ist doch ein Brandstifter“,

kommentierte „Die Woche“ Walsers Äußerungen bei der Aussprache. Daß Bubis mit seiner Aussage, Walser sei ein (unterschwelliger) Antisemit, recht gehabt hat, haben seriöse Zeitungen spätestens seit dieser absurden Unterhaltung eingeräumt. Außer Jurek Becker, Henryk M. Broder, Maxim Biller und Micha Brumlik haben auch Thomas Assheuer, Klaus Harpprecht, Robert Leicht, Sigrid Löffler, Wolfram Schütte, Josef Joffe, Claudius Seidl, Johannes Willms, Manfred Bissinger u.v.a. Walsers hemmungslose Schamlosigkeit verurteilt. Er hat sich mit seiner anmaßenden Art und seinem herrischen Ton selbst demontiert und für alle sichtbar gemacht, daß Bubis von Anfang an richtig lag. Bubis ist als Sieger aus dem Streit hervorgegangen. Doch sind die Folgen dieses Streits verheerend: Walser hat für alle Relativierer, Revisionisten und Revanchisten und anderen extremen Rechten einen diskurspolitischen Erfolg erzielt. An den Stammtischen und im „gesellschaftlichen Gespräch“ geht es auch gar nicht darum, wie sehr Walser sich als notorischer Normalisierungs-Nationalist und ressentimentgesättigter Revisionist geoutet hat, sondern allein um die Referenz zur Debatte. Diedrich Diedrichsen hat in seinem Buch „Politische Korrekturen“ die Natur des diskurspolitischen Erfolgs wie folgt definiert: „In den westlichen Öffentlichkeiten ist an die Stelle der Verlautbarung die Etablierung eines Diskussionsgegenstandes getreten. Ist er einmal etabliert, erübrigt sich oft die Entscheidung über ihn, sein Status ergibt sich meistens aus der Motivation derer, die ihn in die Diskussion gebracht haben. Er bleibt dann zwar offen, aber persistent und heißt nunmehr offiziell „umstritten“. In reaktionären Wenden können dann die über den jeweils diskurspolitischen Status quo ante legitimierten politischen Praktiken -z.B.: Affirmative Action, Beibehaltung des alten Asylparagraphen- mit Hinweis auf die neue Umstrittenheit zum Abschuß freigegeben werden. Wie die beiden erwähnten Beispiele zeigen, mit Erfolg.“ Nach der Walser-Debatte ließe sich nun hinzufügen: „Wiedergutmachung“ (Entschädigung für NS-Opfer), „Vergangenheitsbewältigung“ (Aufklärung und Aufarbeitung der NS-Geschichte) und öffentliches Gedenken. Genau darauf hat Bubis hingewiesen.

Neue Rechte

Verglichen mit Walsers Wirkung sind die Thesen von Ernst Nolte und der „Historikerstreit“ in den achtziger Jahren ein akademisches Geplänkel am Rande der Gesellschaft. Auch damals hatte sich die FAZ als Diskursforum zur Verfügung gestellt und war diskurspolitisch genauso vorgegangen. Dazu Diedrichsen: „Es war wichtig, daß im Historikerstreit kein Sieger aus der Debatte hervorging. Der Charakter des Streits, der Debatte, der Offenheit war entscheidend. Die propagandistische Funktion war ja, gerade nicht zu verkünden, nunmehr gelten allein die Nolte’schen oder Schwilk’schen Auffassungen. Im Gegenteil, man distanzierte sich z.B. offiziell -Schirrmacher, Chefsache- von Syberbergs Antisemitismus, und Gustav Seibt fand imponierend klare Worte, um die Trennung von Nolte zu begründen. Die Debatten sollten vielmehr zum Ausdruck bringen, daß alles offen sei, alles im Fluß,  und man weder Tabus noch den SPIEGEL zu fürchten habe, wenn es darum ging, sich unorthodoxe Lösungen für Deutschlands nationale Fragen einfallen zu lassen. Im Verlaufe dieser Profilierung der FAZ als Blatt der neuen Revidierbarkeit, der Freiheit, die ständig beschworenen „Denkverbote“ aufzuheben, verlor der SPIEGEL die Meinungsführerschaft.“ Hatte Augstein sich noch am „Historikerstreit“ beteiligt und die verheerendsten Angriffe auf die historischen Fakten und deren Deutungen zurückgewiesen (Fest: Hitler habe lediglich Stalin imitiert; Hillgruber: es habe nur eine Millionen ermordeter Juden gegeben; Nolte: Hitler hätte sich zu Recht von den Juden bedroht gefühlt), so hat er nach dem Mauerfall einen besonders deutlichen Wandel vollzogen. So war es der SPIEGEL, der monatelang Botho Strauß und seinen „anschwellenden Bocksgesang“ brachte und der traditionell linksliberale Augstein, der Nolte persönlich interviewte, während die traditionell rechte FAZ ihn nicht mehr mitspielen ließ. Ernst Nolte, der einmal als ernstzunehmender Faschismusforscher begonnen hatte, ist längst der „geistige (Doktor-)Vater“ der sogenannten „Neuen Rechten“, die seit Jahren und mit nicht unerheblichen Erfolg um kulturelle Hegemonie, Stichwortgebertum und Diskursmacht kämpft. Walsers Rede ist der größte Erfolg dieser intellektuellen Neo-Nationalisten seitdem sie Botho Strauß und seinen „Bocksgesang“ 1995 für ihren Sammelband „Die selbstbewußte Nation“ gewinnen konnten. Mit seinen wenig originellen Anti-PC-Tiraden gegen „Meinungssoldaten“ und „Gewissenswarte“ und v.a. mit seiner Frechheit über die „Moralkeule Auschwitz“ imitiert Walser bis ins Platt-Plagitorische Metaphern aus dem Repertoire der „Neuen Rechten“ und schmiegt sich eng an den rechtsextremistischen Jargon: die Keulen von Hans-Helmut Küttner, die ihm auf den Schädel kloppen oder die „Moralpistole“, die für Nolte die Mauser eines Polit-Kommissars der Roten Armee ist, die ihm im Genick sitzt oder die Traktate gegen die „Instrumentalisierung der Vergangenheit“ aus dem schwäbischen „Samsidat“ des Kleinverlegers und „geistigen  Großvater“ der deutschen Nachkriegsfaschisten Armin Mohler, der schon vor dreißig Jahren schrieb, die Deutschen hätten sich nun zwanzig Jahre lang genug mit der Vergangenheit beschäftigt und in dessen Text „Vergangenheitsbewältigung. Von der Läuterung zur Manipulation“  die komplette Palette der Walserschen Redefiguren auftauchen.

Ob Walser eben jene rechtsextreme Szene intellektueller Nationalisten, Kulturantisemiten und Salon-Faschisten mit seinem „Samsidat-Deutschen“ mit der „Kampfmentalität“ meint oder ob er lediglich sein Fähnchen mit dem nach rechts drehenden Wind hängt, weiß ich nicht. Von ihnen distanzieren wollte er sich jedenfalls nicht. 

Politische Korrekturen

Die Frage, ob Martin Walser „nur“ ein völkisch-romantischer Normalisierungs-Nationalist ist oder ein rechtsextremistischer Intellektueller ist nicht zentral für den Diskurs. Schockierend ist die massive Resonanz bei Millionen ganz normaler Deutscher, die seine aggressive Rhetorik bekommen hat: die massenhafte „Bewußtseinsregung“ und „Befreiung“ unserer nicht-jüdischen Mitbürger. Walser ist sensibel für gesellschaftliche Gefühlszustände und surft auf dem Zeitgeist. Die Rhetorik gegen „political correctness“ ist auch in der BR Deutschland seit Anfang der neunziger Jahre ein beliebter Dauer-Schlager der Feuilletons, seitdem diese Debatte aus den USA importiert wurde wie Diedrichsen in „Politische Korrekturen“ aufzeigt.

(Die Tiraden gegen „Tugendterror“ und „Meinungssoldaten“ hat er als „Bestrafungsphantasien schuldiger Schreibtischtäter“ bezeichnet: Von was -bitte-zeugt dann Walsers Rede?)

PC ist hierzuland kein intellektuelles Phänomen, sondern ein Phantomfeind der Feuilletons. Der „Neuen Rechte“ gelingt deshalb der Anschluß an den Zeitgeist so gut, da sich die deutsche Version der Anit-PC-Rhetorik nicht auf die Diskreditierung von antidiskriminierenden Sprachreglungen und eine Abwertung der 68er Kultur reduziert. Hier wird immer auch Vergangenheitspolitik betrieben und im Zuge dessen die Abwertung der „Frankfurter Schule“ und der Traditionen des Antifaschismus betrieben. Aber weder existiert an deutschen Universitäten eine dem US-Campus vergleichbare Diskursschlacht, noch haben die Post-89- Linken viel von den entscheidenen Debatten über Post-Colonialismus, Post-Feminismus etc. mitbekommen. No wonder, daß die deutsche Linke bei der Walserrede so kläglich versagt hat: Ein diskursive Ereignis, das zur ideologischen Grundsteinlegung für die „Berliner Republik“ taugt und niemand aus den parteilinken Organisationen von SPD über die Grünen, von PDS bis zur DKP meldet sich zu Wort. Das „Neue Deutschland“ war genauso pro Walser wie die FAZ und die „Junge Welt“ genauso unflätig gegen Bubis wie die „Junge Freiheit“. Dagegen wurde in der „Frankfurter Rundschau“ und der „Süddeutschen Zeitung“ , in „Die Woche“ und z.T. der ZEIT so scharf und emotional gegen Walser angeschrieben wie in

KONKRET und „Jungle World“. Auf Bubis Seite standen v.a. klassisch (Links-)Liberale und nur wenige Linksradikale. Hierzulande müßten die Linken liberaler werden und die Liberalen radikaler. Schließlich ist ein Demokrat, der kein Antifaschist ist, auch kein Demokrat. Und obwohl in deutschen Landen der politische Campus scheintot darniederliegt, kommt Walser der ungewollte Verdienst zu, durch seine Rede einige Studentinnen und Studenten aufgeschreckt zu haben, die sich seitdem erst mit (sekundärem) Antisemitismus und intellektuellem Neo-Nationalismus in der deutschen Nachkriegs-Gesellschaft beschäftigen und den Aporien eines Anti-Antisemitismus. In einer bundesweiten Resolution von Studierendenvertretungen fanden sie deutliche Worte und stellten sie sich „ausdrücklich auf die Seite von Ignatz Bubis, wohlwissend, daß uns durch unsere mehrheitliche Herkunft aus der Tätergesellschaft ein breiter Graben trennt. Die Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus in der BRD darf nicht an den Zentralrat der Juden in Deutschland delegiert werden. Jede/r ist angehalten, dem Geschichtsrevisionismus und dem damit zumeist einhergehenden Antisemitismus entgegenzutreten. Der Holocaust muß im öffentlichen Bewußtsein gehalten werden.“

In Frankfurt/Main hat der AStA der Universität zusammen mit gewerkschaftlichen Gruppen, Sozialisten und Kommunisten am 27. Januar 1999 eine Demonstration veranstaltet und eine Anzeige in der „Frankfurter Rundschau“ veröffentlicht, die von mehr als hundert Personen unterstützt wurde, unter ihnen Prof. Micha Brumlik, Ralph Giordano, Lea Rosh, Prof. Horst-Eberhard Richter, Beate Klarsfeld, der ehemalige hessische Justizminister Rupert von Plottnitz und die JUSO-Vorsitzende Andrea Nahles (der Bundesverband der JuLis hatte abgelehnt). Mehrere Mitglieder des Bundestages aus SPD, Bündnis90/ Die Grünen und PDS haben mitunterschrieben (niemand aus der FDP): „Wir danken Ignatz Bubis dafür, daß er die Dinge beim Namen genannt hat. Wir wenden uns gegen das „Wegschauen und Wegdenken“ der deutschen Verbrechen der NS-Vergangenheit, dem Martin Walser das Wort redet und gehen auf die Straße GEGEN DAS BRANDSTIFTEN und seine Normalisierung in einer „Berliner Republik“.“ Es war doch gut zu sehen, daß zumindest bei den MdB’s der PDS Walsers geschickte Verklammerung der Amnestieforderung für einen DDR-Spion und der Amnestieforderung für sich, seine Generation und „allen Deutschen (und Österreichern)“ nicht gefruchtet hat und daß es auch bei den Grünen trotz Regierungsverantwortung noch ein bißchen Bürgerrechtsbewußtsein vorhanden ist.

„Reiner Mensch - soldatischer Mann“

An der GH Duisburg gründete sich ein Arbeitskreis, der einen sehr brauchbaren Reader produziert hat und ein studentischer Redner hat Walser nach seiner Rede bei den Universitätstagen im November 1998 scharf kritisiert. Aber auch von seiten einiger Lehrenden kam es zum Protest. In einem gemeinsamen Brief formulierten Prof. Michael Brocke, der dort am Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut „Jüdische Studien“ lehrte und der Germanist  Prof. Bogdal hatten ihr Erschrecken über Walsers „schlichte polemische Zurückweisung erinnernder Auseinandersetzung mit der Shoah“ und seine „nur schwer nachzuvollziehende Besessenheit gegenüber Bemühungen derer, die weiterhin den komplexen Ursachen nationalsozialistischer Verbrechen und ihren Folgen auf die Spur kommen möchten.“ Walser wurde natürlich wieder gedeckt, diesmal von der Universitätsleitung, er konnte erneut auftrumpfen und die treffend kritisierte Besessenheit und „intellektuelle Unredlichkeit“ unter Beweis stellen. Doch ist er -vom Beifall des Publikums berauscht- dort noch einen Schritt weitergegangen. Wieder sprach er über die „Schande“, allerdings von der „Schande von Versailles“ und von dem terroristischen Widerstand der fanatisch-soldatischen Freikorpssöldner. Walser berief sich wieder auf Heidegger, diesmal auf dessen Rede als Rektor der Freiburger Universität zum 10. Jahrestag der Erschießung von Schlageter. Albert Leo Schlageter war einer der rechtsextremen Revanchisten, die nach dem Ersten Weltkrieg weiterkämpften, weil sie an die „Dolchstoßlegende“ glaubten: „Er mußte ins Baltikum, mußte nach Oberschlesien, mußte an die Ruhr“. Und zwar mit dem faschistischen Freikorps Medem, das Riga stürmte und 1920 die Aufstände der Ruhrarbeiter blutig niederschlug. Mit anderen nationalistischen Terroristen wurden desweiteren Bombenattentate gegen französische Besatzungsoldaten und Fememorde an deutschen Demokraten verübt. Walser rühmte diesen „reinsten Menschen“ dessen -in Heideggers Worten- „Härte des Willens“ und „Klarheit des Herzens“, so wie er das schon 1981 in „Schlageter - Eine deutsche Verlegenheit“ getan hatte (abgedruckt in: „Heilige Brocken“, 1986). Wenigstens da ebbte der Beifall etwas ab. Zu deutlich erinnert diese Sprache an das Vokabular des „soldatischen Mannes“ (Klaus Theweleit, „männerphantasien“): reine „Kampfmentalität“. Einen militanten Nationalisten und Faschisten zum nationalen Märtyrer zu verklären, das geht auch einigen Normal-Deutschen zu weit. Für Martin aber knüpfen sich daran Kindheitserinnerungen: in seinem Roman schildert er die Aufführung von „Schlageters Tod“ in einer Schule, in dem ein Anti-Deutscher gequält und schließlich zum Sprechchor „Deutschland erwache!“ verbrannt wird.

 

NEU! NEU! NEU! Die neue Normalität des neuen Nationalismus der neuen Mitte

Mit Walsers Rede verhält es sich wie mit der Jenninger Rede 10 Jahre zuvor, nur andersherum: damals redete sich der damalige Präsident des Bundestages zum 50. Jahrestag der „Kristallnacht“ um Kopf und Kragen und sein Amt. Er nannte das Dritte Reich ein „Faszinosum“ und stellte die rhetorische Frage, ob den Deutschen das Mitmachen und Mitmarschieren nicht doch großen Spaß gemacht habe. Jenniger hatte den letzten Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da war er schon als „Verharmloser“ gebrandmarkt, bald darauf aus dem Amt gejagt. Es dauert eine Weile, bis die voreilige Öffentlichkeit merkte, daß Jenniger eine ordentliche Rede gehalten hatte, daß er nur kein guter Redner war, nicht in der Lage, Anführungszeichen richtig zu betonen, um Zitate vom eignen Text abzusetzen, schreibt Henryk M. Broder in seinem neuen Buch „Jedem das Seine“. Zehn Jahre später hat Martin Walser in der Paulskirche eine Rede gehalten, die andersherum Geschichte gemacht hat: es dauerte eine Weile, bis die Öffentlichkeit merkte, daß seine Worte nicht den Beifall verdienten, mit dem sie quittiert wurden. Peinlich für die versammelte Mannschaft des Establishments. Nur hat keiner der Steh-Auf-Klatscher die Größe das zuzugeben. Und man kann schlecht die gesamte Polit-Elite aus dem Amt jagen.

Es ist nicht absehbar -so Micha Brumlik in der taz- ob es sich bei der Debatte nun um den „Schwanengesang der Flakhelfergeneration“ handelt, oder ob in dieser Elitenkommunikation „das semantische Feld eines neuen Nationalismus“ bereitet wird. Die politische Klasse hat sich wohl nicht ohne Grund verdächtig zurückhaltend während der Kontroverse verhalten. Neu-Bundeskanzler Schröder verriet, daß Walser als Dicher Dinge sagen könne, die Politiker nicht wagen zu sagen. Sein Kulturbeauftragter Naumann applaudierten jedenfalls ebenfalls stehend in der Paulskirche. Er war es auch, der während des Wahlkampfs mit seiner Ablehnung des Mahnmals den Widersachern neuen Aufwind gegeben hat. Schröder scheint seine neue Aufgabe als Regent darin gefunden zu haben, die deutsche Industrie zu schützen: bei Entschädigungsforderungen ausländischer Strombetreibern beim Atomausstieg ebenso wie bei Entschädigungsforderungen ehemaliger Zwangs- und Sklavenarbeiter der deutschen Industrie. „Wir brauchen keine neue Wiedergutmachungsdebatte“, ließ er verlauten und: im Jahr 2000 ist aber Schluß mit Zahlungen! Er sieht sich auch zu keinen „Kranzabwürfen“ genötigt, wenn er in die Teile des Auslands reist, in denen nazideutsche Soldaten Greultaten verübten: das alles sei kein neuer Nationalismus, sondern die ganz normale Normalität einer „erwachsenen Nation“: „selbstbewußt, ohne überheblich zu sein“ So viel zu den neuen National-Sozialdemokraten. Willy Brandts Enkel wollen wohl weniger „Mehr Demokratie wagen“ als vielmehr „Mehr Deutschland wagen.“

Ob sie es -wie Augstein hofft- wagen werden, die neue Mitte Berlins von dem „Schandmal“ freizuhalten bleibt abzuwarten, Naumann hat schon alternative Pläne geschmiedet. Für den SPIEGEL spiegelt dieser „Schröder-Sound“ die „Coolness der ‘Neuen Mitte’“, für andere klingen diese Töne verdächtig nach der „selbstbewußten Nation“, dem 1995 erschienen Sammelband der sog. „Neuen Rechten“. Im Doppelpack dazu erschien -ebenfalls im vorübergehend erneut arisierten Ullstein-Verlag- der Band „Wir 89er“ von jungen Rechtsextremen, die aus dem neuen nationalen Selbstbewußtein ein Generationsding gegen die Alt-68er machen wollten. Die Zeit hat sie eingeholt, wie es scheint, die 68er haben sich selbst des nationalen Dings angenommen. Und so war Walser’s Rede auch nicht der Schwanengesang der Kohl-Ära, sondern der Auftaktsakt für die „Berliner Republik“, untermalt von ein paar Takten „Schröder-Sound“ mit Apo-Pop. Auch wenn Walser kein 68er war, sondern Mitglied der Gruppe 47: Walser’s way vom DKP-Dichter zum CSU-Referenten ist ein ähnlich langer Marsch wie der vom APO-Aktivisten zum Außenminister und vom Jungsozialisten zum Bundeskanzler. Diese „2. Generation“ deutscher Deutscher haben ihren Frieden gemacht mit ihren Nazi-Eltern, gegen die sie vor 30 Jahren mal aufbegehrten- so wie das erwachsene Menschen eben machen. Im Alter werden alle normaler und nationaler...

Generation APO

Nur sollten wir -the next generation- uns nicht von den ehemaligen Apo-Aktivisten, die heute in Amt und Würden sind, erzählen lassen, ihre Protestkultur sei geprägt gewesen von der fundamentalen Formel „Nie wieder Auschwitz“. Der US- amerikanische Politologe Andrei S. Markovits hat in seinem Buch „Grün schlägt Rot“ beschrieben, daß für diese Gruppe der 68er die Shoah ein Thema unter ferner liefen war: „Sie interessierten sich nicht dafür, sie kannten es nicht, und sie kennen es eigentlich bis heute nicht.“ (Markovits beim KONKRET-Podium „Vorwärts und Vergessen - Martin Walser, Auschwitz und die Berliner Republik“)

Schon 1968 kann davon keine Rede mehr sein. Blicken wir zurück nach Frankfurt: während Ende Juni 1967 auf dem Frankfurter Campus noch eine Solidaritätsveranstaltung mit dem tödlich bedrohten Staat Israel stattfand, kippte die Stimmung in nur wenigen Wochen um und kurz darauf verhinderten Frankfurter Studenten eine Veranstaltung mit dem israelischen Botschafter. Dieser warnte die agitierte Meute davor, daß dies das erste Mal seit über 30 Jahren sei, daß ein Jude in Deutschland am Sprechen gehindert würde. Er wurde niedergeschrien mit Rufen wie: „Die Zionisten sind die neuen Nazis.“ Auch die entsetzten Beschwörungen der mit ihnen solidarisch verbundenen Überlebenden wie Jean Amery und den von ihnen bewunderten Denkern wie Sartre und Bloch konnten die deutschen Studenten nicht zur Einsicht bringen (nachzulesen bei Martin Kloke: „Israel und die deutsche Linke“). Damit wir da klar sehen: Die 68er haben mit dem rassistischen Nazi-Antisemitismus ihrer Eltern geborochen, uns aber mit einem neuen Antisemitismus beerbt: dem ideologisch motivierten Anti-Zionismus. Aus dieser Zeit stammt der schamlose Satz: „Die Juden machen doch in Israel dasselbe mit den Palästinensern.“ Dieser dumme und infame Satz kursiert bis heute und ist auch bei den pazifistischen Protesten gegen den Golfkrieg auf den Schülerdemos wieder aufgetaucht. Und noch vor 10 Jahren haben „maoistische Ersatznazis“ (Maxim Biller) am Jahrestag der Reichspogromnacht Gedenkstätten geschändet als „Zionistenpropaganda“. Der traurige Höhepunkt dieser Entwicklung war die Beihilfe eines deutschen Linksradikalen bei der Flugzeugentführung in Entebbe, der dem palästinensischen Terrorkommando half, jüdische Passagiere zu selektieren. Auch die Ermordung der israelischen Sportler bei der Münchner Olympiade 1972 wurde von der linksdeutschen Terrorfraktion gewürdigt. Während der ehemalige SS-Mann und Wirtschaftsführer Hans-Martin Schleyer von der RAF erschossen wurde, ließen sich ihre Genossen in palästinensischen Terroristen-Lagern als Stadtguerilleros ausbilden. (Wen wurdert’s, wenn einer von ihnen, der Anwalt Mahler, heute eine „nationale Sammlungsbewegung“ anführt und als neue Führerfigur der Neonazis gehandelt wird; so einige führende 68er Zeitgeistgenossen sind ihm in die extreme Rechte gefolgt.)

In derselben Zeit demonstrierten die studentischen Frankfurter Hausbesetzer gegen Hausbesitzer und Spekulanten und R.W. Faßbinder hat dem hochkochenden Antisemitismus dieser Zeit mit seinem berühmt-berüchtigten Stück „Die Stadt, der Müll und der Tod“ zum Ausdruck verholfen. Als das Stück 1985 in Frankfurt aufgeführt werden sollte, kam es zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte zu einem deutlichen Protest von seiten der jüdischen Gemeinde. Damals verkündeten deutsche Zeitungen das „Ende der Schonzeit“ für „unsere jüdischen Mitbürger“. 13 Jahre später sollte das Stück in Berlin wieder aufgeführt werden und kaum später hält Walser seine Rede. Als ob sich die Apo-Opas zusammengerottet hätten, um dem Repräsentanten der jüdischen Gemeinden in Deutschland nun, nachdem sie „an der Macht“ sind zu beweisen, daß die „Schonzeit“ nun endgültig vorbei ist. Forget 68. Zurück in die „Frankfurter Schule“!

 

Kader Karlo